Sonntag, 8. Januar 2017

Retrospektive 2016 - Die Tops und Flops des Jahres



Psst, ich habe etwas gemogelt.

Streng genommen habe ich 2016 178 Filme gesehen. Da es sich aber ergeben hat, dass ich in der ersten Januarwoche Zeit hatte, einige Werke noch nachzuholen (eins hat es dann sogar noch in die Top 10 geschafft – und nein, es war nicht Toni Erdmann), zähle ich diese frech noch dazu. So kommen neun hinzu und die Zahl erhöht sich auf 187 Filme. Das sind satte 20 mehr als 2015 und auch die Zahl der „aktuellen Filme“, also Streifen, die, auf welchem Vertriebsweg auch immer, es 2016 nach Deutschland geschafft haben, kann sich mit 74 sehen lassen. Auch hier sind es 20 mehr als im letzten Jahr. Muss wohl einer dieser kosmischen Zufälle sein. Auf dieser Basis habe ich die untenstehenden Listen erstellt, aber wundert euch nicht, wenn sich der Link verändert. Wenn ich Filme aus 2016 nachhole, werden sie dort eingepflegt. Will heißen: in sechs Monaten kann das Ganze schon wieder leicht anders aussehen und womöglich Top-Filme enthalten, die hier nicht erwähnt wurden.

Leider habe ich versäumt, ein Serienprotokoll zu führen, darum kann ich nichts zu der Anzahl der gesehenen Serienstaffeln sagen, aber ich denke, das ist auch auf einem Filmblog durchaus entbehrlich (das Beste war ohnehin die zweite Staffel The Knick und wehe, einer kommt mir mit Stranger Things).

An der Reviewfront hat es im vergangenen Jahr einige Umstellungen gegeben. Gerade einmal 19 Full-Length-Reviews haben es in diesen Blog geschafft, dazu eine Zusammenstellung meiner Gedanken zum ARD-Dreiteiler Mitten in Deutschland: NSU. Dafür bin ich dazu übergegangen, Gedanken auf letterboxd in oftmals kleinerem Umfang zusammenzufassen. Zu 69 Filmen habe ich das 2016 geschafft, somit habe ich insgesamt zu immerhin 88 Filmen etwas hinterlassen. Ich muss sagen, dass mir das letterboxd-Format durchaus gefällt und ich trage mich mit dem Gedanken, diese Kurzbesprechungen 2017 auch hier im Blog zu verwenden. Ob ihr die Idee gut oder eher schlecht findet könnt ihr mir ja in den Kommentaren mitteilen, wenn ihr wollt.

Was 2016 gut geklappt hat ist meine Vorauswahl von Filmen (ich nutze als monatliche Übersicht übrigens epd Film, war aber überrascht, dort nichts von Wir sind die Flut erfahren zu haben. Dank meiner affinen Twitter-Timeline konnte ich den Film aber auf meine ständig wachsende Liste setzen). Was das heißt? Ich habe mir Filme, bei denen ich einfach spürte, sie würden eh nur auf der Flopliste landen, von vornherein gespart. Kein Tschiller: Off Duty, kein Batman V Superman, kein Warcraft – The Beginning, kein Verrückt nach Fixi, nach Lucas Barwencziks leidenschaftlichem Verriss kein Grüße aus Fukushima.

Verpasst habe ich natürlich auch einiges. Buzz-Filme, mögliche Kandidaten für die Top-Liste (wenn man einer wie auch immer gearteten Mehrheit Glauben schenken mag), Hypes. Darunter sind Seefeuer, Kubo – Der tapfere Samurai, Captain Fantastic, Junges Licht, The Neon Demon, The Nice Guys, Valley of Love, Wiener-Dog, 24 Wochen, American Honey, Deepwater Horizon, Krieg und Spiele, Paterson, Swiss Army Man, Vaiana, Train to Busan, Die Mitte der Welt.
Auch weniger präsente, aber auf meiner persönlichen Prioritätenliste stehende Filme, harren 2017 auf meinen Besuch: The Visit – Eine außerirdische Begegnung, Welcome to Norway, Familie haben, Overgames, Nebel im August, Collide, Agnes, Black Mountain Side, Ferien, Gestrandet, The Keeping Room, The Wolfpack – Mitten in Manhattan, Zero Days – World War 3.0.

Bevor wir zu den 2016ner-Listen kommen, hier noch eine kleine Auswertung der 114 Filme, die ich unabhängig vom laufenden Jahr gesehen habe. Darunter waren lediglich 30 Wiederaufführungen, bleiben also noch 84 Filme aus den unterschiedlichsten Epochen, die ich 2016 zum ersten Mal sah. Es war einiges schönes dabei, darum hier zehn Tipps:

10.) Frau Müller muss weg (2015)
09.) Blutiger Freitag (1972)
08.) Reservoir Dogs (1992)
07.) Schloss des Schreckens (1961)

Allerdings muss ich auch vor einigen Filmen regelrecht warnen. Und da alles zwei Seiten hat, hier auch eine Flop 10

10.) John Wick (2014)      
09.) Zombeavers (2014)

Von den Wiedersehen haben diese fünf Filme mir auch beim wiederholten Sehen sehr gut gefallen:

01.) Psycho (1960)

Und nun kommen wir zu dem, warum ihr überhaupt hier seid, um zustimmend zu nicken oder augenrollend den Kopf zu schütteln. Oder auch beides.



DIE FLOP 10 DES JAHRES 2016


10.) MATCH ME!

Die gute Nachricht zuerst: Match Me! ist erträglicher als der letztjährige Dokumentarfilm zum Thema „Liebe finden“, Love & Engineering. Die schlechte Nachricht: wirklich interessant ist auch dieser Film nicht. In einem kühl kalkuliert wirkenden Schachzug werden drei besonders obskure Suchende portraitiert. (…) Der Film stellt in seiner Tagline die Frage, wie man die Liebe in der heutigen Zeit finden soll, de facto interessiert er sich aber nur für ein zielloses Vorführen von verzweifelten Menschen, die zu mitunter sehr seltsamen Methoden greifen, um einen Partner zu finden. Das Ganze wird dann witzlos und ohne tiefere Aussage aneinandergeschnitten, so dass Match Me! zu einer recht belanglosen Angelegenheit wird.


Die Welt wartet auf so vieles. Der Weltfrieden ist ein beliebter Traum, das Besiegen von Hunger und Armut weitere Kandidaten. Im filmischen Kontext wartet die Welt auch nach dem Erscheinen von The Shallows noch auf einen passablen Hai-Film. Das Subgenre des Tierhorrors (seinerseits eine Unterabteilung des Horrorfilms), 1975 von Steven Spielberg und seinem massiv überschätzten Der weiße Hai aus der Taufe gehoben und inzwischen dank Sharknado und Co. ihren Trashfaktor gar nicht mehr verbergend, ist keine Sache von Subtilität. An sich keine schlimme Sache, würde nicht auch The Shallows aus einem durchaus furchterregenden, letztlich aber recht unbescholtenen realen Tier eine fast unbesiegbar erscheinende Killermaschine mit persönlicher Vendetta machen, ganz so, als hätten die verlachten Fortsetzungen des Spielberg’schen Wasserschockers nie existiert. Und ganz wie der kleine Felsen, auf den sich die Protagonistin hier vor dem Fisch in Sicherheit bringt, ist dies nur die Spitze eines ganzen Fragenkatalogs, die der als ernstzunehmender Thriller getarnte Quatsch an den Strand der enttäuschten Filmhoffnungen spült.


Erstaunlich, dass dieser Film vom gleichen Regisseur wie der hervorragende Die Jagd stammt. Was sich auf dem Papier interessant liest, wird in Thomas Vinterbergs Film zu einem inkohärenten Ganzen, in dem vor allem die mitunter furchtbar geschriebenen Figuren sauer aufstoßen. (…) Die Themen liegen ja quasi auf der Hand: die (Un-)Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe, wirkliche zwischenmenschliche Verwicklungen – Die Kommune sollte eigentlich ein soziologischer Leckerbissen von Film sein. Doch weder die Figuren noch der Regisseur interessieren sich wirklich für die gesamte Bandbreite der Prämisse, warum sollte es also das Publikum tun. Die Kommune hinterfragt so gut wie nichts, weiß nicht, wohin er eigentlich will, seine Leerstellen bleiben genau dies. Dieser Film gibt nur vor, zu atmen, zu leben und zu denken.

07.) INDEPENDENCE DAY: WIEDERKEHR

Independence Day ist etwas doof, aber unterhaltsam. Wiederkehr ist nicht mal das. Lieblos zusammengeschustert, sinnfrei und in seiner Inkohärenz geradezu beleidigend. Im ersten Teil wurden die Aliens mit Heuschrecken verglichen, hier sind es Bienen. Wir lernen: für Hollywood sind Insektenanalogien beliebig, Hauptsache es krabbelt. Auf diesen Film bezogen gilt: Hauptsache, es rummst. Das die partielle Zerstörung der Welt inzwischen aber im Wochenrhythmus stattfindet, ist nicht die Schuld von Wiederkehr, wohl aber seine sichtliche Unlust, mit der sie betrieben wird. In diesem Film ist alles so dermaßen egal und freudlos, dass es fast müßig ist, sich darüber zu echauffieren. Fast.


Der erste von drei Filmen über den rechtsextremen Terror, der 2011 als sogenannter „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bekannt wurde, ist gleich ein großer Griff ins Leere. Angefangen mit der fragwürdigen formalen Entscheidung, den Reigen mit den Tätern zu beginnen, bietet der Film darüber hinaus nicht viel mehr als das übliche rechte Gruselkino á la Kriegerin. (…) Der Film mag ja laut Aussagen von Szeneaussteigern den Weg ins rechtsextreme Milieu recht akkurat darstellen, aber eben weil der Film so sehr Spielfilm ist, oft geradezu in den Darstellungen angespannter Körper schwelgt, offenbart er auch, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist. Wer exemplarisch den Weg in eine mörderische, rassistische Gesellschaft zeigen will, der wäre hier mit einem gänzlich fiktiven Werk wohl besser aufgehoben. So werden Vermutungen und Spekulationen, die eigentlich erst im noch laufenden Verfahren gegen Zschäpe aufgearbeitet werden sollen, durch die Macht des Films zu Wahrheiten. Die Täter – Heute ist nicht alle Tage spielt damit auch der Überlebenden des Trios in die Hände, die sich den medialen Sexismus ja schon zunutze machte und sich selbst als „armes Frauchen“ stilisierte. Die richtig Schlimmen, dass sind immer die Anderen.


Als Familienfilm versagt Kung Fu Panda 3, weil er in seiner Schlichtheit nicht die ganze Familie anspricht. Als Kinderfilm nimmt er seine jungen Zuschauer nicht so ernst wie die vorherigen Teile und behandelt sie ähnlich wie Po – eine Weiterentwicklung ist so unerwünscht, dass man sich lieber auf altbekannte Muster der „niedlichen Naivität“ beruft. Und als Animationsfilm ist der dritte Ausflug in das anthropomorphe China zwar hübsch anzusehen, zeigt aber immer dann, wenn die Bilder stilisierter werden, wie wenig aufregend der generische DreamWorks-Look noch daherkommt. Kung Fu Panda 3 ist weniger die filmische Entsprechung des auch im Abspann verwendeten Songs („Kung Fu Fighting“), sondern eher das Äquivalent zur deutschen Übersetzung aus den ZDF Hitparade-Zeiten („Sie spielen Kung Fu / Das ist eine Art von Sport.“). Es ist irgendwie das Gleiche, nur eben in schlecht.


Eine Welt, in der Vampire, Menschen und Zombies zusammenleben und die dadurch zu einem satirischen Zerrbild einer hierarchischen Gesellschaft wird, hauptsächlich durchexerziert anhand des Abbildes US-High School.
So oder vergleichbar wird sich Freaks of Nature wohl selbst sehen, obwohl von der hoffnungsvollen Prämisse nichts übrig bleibt. Der Film weiß überhaupt nichts mit ihr anzufangen, weder nutzt er sie für clevere Gags oder hintergründige Kommentare, noch schafft er ein „world building“, das diesen Namen verdienen würde. Freaks of Nature ist so oberflächlich, dass es mitunter schmerzt, eine wirre Phantasie, die sich selbst keinerlei Regeln für das Funktionieren ihrer Welt auferlegt, weil sie wahrscheinlich ohnehin zu faul wäre, sich an diese zu halten.



Wer absichtlich Trash schaffen will, kann eigentlich nur scheitern. Es sind die großen Ambitionen, die mit geringen Mitteln dann nicht so funktionieren, wie sie eigentlich sollten, die den Charme des cineastischen Scheiterns ausmachen, die unbedingte, manchmal eben auch blinde, Liebe zum Medium – Selbstüberschätzung gepaart mit bewundernswerten Elan. Die Sharknado-Filme gehören nicht dazu, sie sind das kalkulierte Produkt eines TV-Senders, der sich dem Neuzeit-Trashs aus einer Kosten-Nutzen-Rechnung heraus verschrieben hat. Umso peinlicher kommt die Dokumentation Feeding Frenzy daher, die die Filme über fliegende, ewig hungrige Haie als den heiligen Gral des Trashfilms hinstellt. Das Wort „Popkultur“ wird so überstrapaziert, dass man glaubt, sie würde nur aus Sharknado bestehen und dem damit einhergehenden „ironischen“ Filmverständnis, dass im am Reißbrett entworfenen „Kult“ eine Offenbarung gefunden hat. Genau wie die zugrundeliegenden Filme ist Feeding Frenzy ein lautes, pseudo-lustiges Durcheinander, dass sich permanent selbst befriedigt und viele „talking heads“ präsentiert, die viel reden ohne viel zu sagen.

02.) HELL & BACK

Oh. Mein. Gott.
Der Aufwand eines Stop-Motion-Films verschwendet an ein aggressiv-dummes, widerliches Script, das jegliche menschliche Regung auf Pippi-Kacka-Ficki-Humor reduziert. Eigentlich so schlecht, dass man es gesehen haben muss, um es zu glauben, aber die Zeit lässt sich sicherlich sinnvoller füllen. Zum Beispiel mit entkalken der Spülmaschine.

01.) DEADPOOL

Wo soll man nur beginnen? Vielleicht bei den positiven Aspekten? Nun gut: nach knapp 75 Minuten leistet sich Deadpool die einzig wirklich gute Dialogzeile: „Ich würde dich ja begleiten aber … ich will nicht.“ Lakonisch vorgetragen, gleichzeitig irrelevant wie bestens zur Narrative passend – es ist ein winziger Moment inmitten eines Taifuns aus cineastischen Zumutungen. Denn der massiv erfolgreiche Film, enfant terrible des MARVEL Cinematic Universe (zumindest möchte er so gesehen werden), ist vor allem ein selbstreferenzielles Vakuum, erstarrt in einem schon fast nicht mehr pubertär zu nennenden Verständnis der eigenen Coolness.

Prä-Pubertär trifft es wohl eher, das filmische Äquivalent zu dem noch nicht in den Stimmbruch gekommenen Halbstarken, der gern über Dinge erzählt, von denen er bestenfalls eine vage theoretische Ahnung hat – aber das Ganze natürlich so lauthals, dass es jeder Umstehende ungefragt mitbekommen muss. Es hagelt Verweise und Sprüche im Sekundentakt, nicht umsonst wird die Figur Deadpool „the merchant with the mouth“ genannt. Das Ganze ist aber so beliebig, so wenig fokussiert, dass der Film Deadpool am Ende des Tages wie eine Twittertimeline gefüllt mit den schlimmsten Nerds, die man sich vorstellen kann, wirkt: alles wird kommentiert, was schnell in 140 Zeichen passt, egal, ob es sinnvoll ist oder nicht – der schnelle Lacher ist wichtiger als jede wie auch immer geartete weitere Ebene.

Das sich ausgerechnet der Film, der vorgibt, sich über die eine breite Angriffsfläche bietenden Superheldenfilme á la MARVEL lustig zu machen, der mit Abstand schlechteste Vertreter der leidlichen Bande entpuppt, ist dann auf schräge Art wieder im Sinne des postmodernen Selbstempfindens des Ganzen – wenn denn die „I don’t give a fuck“-Attitüde wirklich ernst gemeint wäre. Denn wie der laute „Whatever“-Pubertätsanwärter aus dem obigen Beispiel ist Deadpool natürlich gar nicht tief unter seiner Oberfläche über alle Maßen von sich überzeugt, was seine Sympathiepunkte nicht gerade steigert.




DIE TOP 10 DES JAHRES 2016



Es ist en vouge, über Animationsfilme aus den USA die Nase zu rümpfen und jene aus Japan hochzuhalten. Mit dem kunstvollen Monolithen Studio Ghibli und einer beunruhigenden Tendenz des PIXAR-Studios zu unnötigen Fortsetzungen ist dies zwar auch sehr naheliegend, aber das weite Feld zwischen den Polen wird dabei schnell aus den Augen verloren. Während in Deutschland zugegebenermaßen eher der Trickfilm á la Werner – Gekotzt wird später dominiert, entstehen beispielsweise im Nachbarland Frankreich nicht nur fantastische Serien wie Die langen großen Ferien, sondern auch Filme wie Der Tag der Krähen, der Anleihen an Ghibli macht, jedoch seine eigene Stimme geradezu mühelos findet. (…) Der Tag der Krähen ist ein klug durchdachter Film, der zwar an manchen Stellen auf altbekannte Versatzstücke zurückgreift (z.B. der obligatorische Scheunenbrand) und seine gestalterischen Vorbilder nicht verleugnen kann, insgesamt aber ein diskussionswürdiges, reichhaltiges Filmerlebnis bietet. Der europäische Zeichentrickfilm lebt – und es geht ihm sehr gut.

09.) THE WITCH

In The Witch geht es nicht um eine Hexe, ebenso wenig wie es im letztjährigen Der Babadook wirklich um eine schattenhafte Präsenz ging, die eine überforderte Witwe und ihren Sohn heimsuchte. Heimsuchungen sind zwar auch im Regiedebüt von Robert Eggers ein wichtiges Thema, aber einmal mehr generiert sich das Grauen weniger aus einer wirklich greifbaren Bedrohung sondern aus den Dämonen, die aus den Menschen selbst geboren werden. Und anders als der Babadook, dessen Kreation von unkontrollierbaren äußeren Umständen bedingt wurde, ist es hier die selbstgewählte Geißelung, die ins Verderben führt. The Witch ist ein analysefreudiger Film, dessen bedrohliche Stimmung auf billige Jump Scares verzichtet, der immer dann am schwächsten ist, wenn er zu konkret wird. Dem Gesamteindruck eines hervorragenden Genrebeitrags tun aber selbst solche Zugeständnisse nicht weh. (…) In einer Welt, die unter dem religiösen Fanatismus leidet, zeigt The Witch auf die Fallstricke allzu strenger Denkmuster, die sich durch den Verweis auf Gott oder andere übergeordnete Platzhalter legitimieren. Die Welt wird hier nicht ins Unglück gerissen, wohl aber das Wohlergehen von Menschen, die letztlich die Welt bilden, die sie mit ihrer Frömmigkeit auf ihrer Seite wähnten. Dass der Film mit seiner durchgehend unheimlichen Atmosphäre, den wohlkomponierten Bildern und dem Soundtrack dann auch noch ansehnlich und kurzweilig daherkommt, wirkt bei solchen Subtexten dann schon fast wie ein schmückendes Beiwerk.


The Hunting Ground ist in seiner ganzen Wucht schwer ertragbar. Formal eine Doku ohne Experimente, wiegt der inhaltliche Sprengstoff alles schnell auf. Die Situation an deutschen Hochschulen mag anders sein, aber die Mechanismen, nach denen in Fällen sexueller Gewalt argumentiert wird, legt der Film akribisch offen. Auf dem Oktoberfest gehören sexuelle Übergriffe ja auch zur „Folklore“ und die „Provokation“ durch einen Ausschnitt oder einen Rock wird als so gravierend angesehen, dass dem Vergewaltiger ja gar keine andere Möglichkeit blieb, als etwas zur Triebabarbeitung zu tun. Es ist diese ungeheuerliche Argumentationsweise, die in The Hunting Ground immer wieder zur Sprache kommt und sie ist, so traurig und erschreckend dies auch sein mag, universell. So wird der Film zu mehr als zu einer weiteren Schilderung aus den Niederungen der US-amerikanischen Gesellschaft. The Hunting Ground ist, in der ein oder anderen Form, überall.

07.) ARRIVAL

Nach hervorragenden zwei Dritteln zerstört sich der Film im dritten Akt durch einen Kniff, der so spektakulär blödsinnig ist, dass ich ihn hier dem womöglich unbedarft Lesenden nicht verraten möchte, fast selbst. Sprache formt das Denken, sicherlich, aber was Arrival daraus macht ist so plakativ, dass man sich einen Roman herbeiwünscht, der das Konzept auf einigen hundert Seiten unterfüttern hätte können. So bleibt eher viel Mumbo-Jumbo. Es spricht deshalb für den Rest des Films, dass er dennoch auf dieser Liste auftaucht, denn der Versuch, den Erstkontakt mit Außerirdischen möglichst realistisch darzustellen, ist so gut gelungen, dass Arrival deshalb in Erinnerung bleibt und nicht wegen seiner Verfehlungen. Der Film spricht Probleme an, die in den üblichen Darstellungen des Kontakts nicht vorkommen und wenn man Amy Adams nur dabei zugesehen hätte, eine sinnige Kommunikationsgrundlage zu finden – Arrival wäre sogar noch besser geworden. Nicht zu retten ist allerdings der Soundtrack, der mit kaum verfälschten Walgesängen und einem Dideridoo eine Art Futurismus evoziert, der musikalisch eigentlich irgendwann in den 1980ern ausgestorben ist. Ja, vielleicht mag ich Arrival in einigen Teilen eher für das, was er versucht als für das, was er ist.

06.) SPOTLIGHT

Wenn beklagt wird, dass der „Mittelfilm“ zwischen Blockbuster und Indie auszusterben droht und es ihn in den 1960er und 1970er Jahren doch noch zu Hauf gab, der wird mit Spotlight zumindest ein bisschen aufatmen können. Der in so gut wie allen Belangen „klassisch“ inszenierte Film ist involvierend und trotz des Sujets niemals anklagend oder diffamierend. Es ist wie guter Journalismus sein sollte: ein Missstand wird recherchiert, aufbereitet, gecheckt und schließlich veröffentlicht, auf dass sich jeder Leser ein Bild, ausgehend von den Fakten, machen kann. Manchen mag das trocken erscheinen, vielleicht sogar zu glatt in Szene gesetzt zu sein, aber Spotlights Kraft sollte nicht unterschätzt werden. Ein gleichzeitig spannender wie ruhiger Film.


05.) MUSTANG

Letztes Jahr Das Mädchen Hirut, dieses Jahr Mustang. Ich glaube, ich habe was für Emanzipationsgeschichten übrig. Das Schöne an Mustang ist sein Mix aus absolut leichtfüßigen Momenten (die Sequenz mit dem Fußballspiel gehört zu meinen Lieblingsmomenten des Kinojahres) und tiefer Schwere, die von den Protagonistinnen letztlich durch Einfallsreichtum überwunden wird. Es ist nicht alles gut, wenn der Abspann einsetzt, aber vor allem die junge Lale scheint den Fängen einer patriarchalen Struktur entkommen zu sein. Bemerkenswert ist auch der Verzicht des Films aus einen klar definierten „Schurken“. Der Onkel und die Großmutter sind nicht per se schlechte Menschen, sie sind nur so gefangen in ihren traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit, Sexualität und Ehe, dass ihr Weg vorgezeichnet ist. Sie haben nicht mehr die Kraft zum Umdenken, gerade wenn man unter der ständigen sozialen Kontrolle des Umfeldes steht. Es geht nicht darum, verknöcherte Hirnwindungen wieder geschmeidig zu machen, sondern um die Rettung derer, die noch zu retten sind. Mustang wirkt nach, keine Frage. 


Cineasten beschwören es ja immer wieder: großartige Filme findet man häufig eher in den Nischen und weniger im Multiplex. Kaum ein anderer Film in diesem Jahr zeigt dies so gut wie Wintergast, eine kleine Produktion aus der Schweiz, die dank Untertiteln und den monochrom gehaltenen Bildern gleich zwei „Hürden“ für den Massenmarkt anbietet. Doch Wintergast ist auch eine präzise beobachtete Studie über die Schwierigkeiten des kreativen Schaffensprozess und die mit ihm kollidierenden diffusen Lebensziele, ohne dabei in schale Hipster-Posen abzugleiten - quasi eine europäische Version von Frances Ha ohne die enervierenden Elemente.


03.) ZOOMANIA

Es gibt ein Brettspiel für Kinder mit dem alles erklärenden Namen Tiere füttern, quasi die Fortsetzung des Besuchs im Zoo, Wald oder am Wildgatter für den heimischen Esstisch. Menschen, nicht nur die an Jahren junge, locken gerne andere Tiere mit Futter um sie eben zu füttern, zu streicheln, sie aus der Nähe zu sehen. Dabei steht weniger das Beobachten der schnöden Nahrungsaufnahme im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Kontakt zu einem nicht-menschlichen Lebewesen. Der Mensch, quasi isoliert durch einen Evolutions- und Kulturprozess, der ihn immer weiter von den anderen Geschöpfen des Planeten entfernt, sehnt sich nach „den Anderen“. Dieses sich in Relation setzen kann natürlich gute wie schlechte Blüten treiben und man muss nur an das koloniale Klischee vom „edlen Wilden“ erinnern, um zu erkennen, dass die Suche sogar innerhalb der eigenen Art auf grausamste Spitzen getrieben werden kann. Umso erfrischender, dass Zoomania, der in der Zählweise des Disneystudios inzwischen 55. abendfüllende Animationsfilm, genau solch plumpe Zuschreibungen umgeht. Der Film ist cleverer, als wohl die Meisten erwartet haben dürften, geradezu wasserdicht handhabt er seinen Subtext, der über die einfache Rechnung „Vorurteile sind schlecht“ weit hinausgeht. Zoomania ist genau der richtige Film zur richtigen Zeit, eine im besten Sinne moderne Parabel in einer politisch vergifteten Zeit, in der die Differenzierung dem Stammtisch geopfert wird.


02.) SON OF SAUL

Eine „gute Zeit“ im Popcornkinosinn wird man als Zuschauer bei Son of Saul nicht haben. Mehr noch, es kann sein, dass man ihn nach einmaligem Sehen nie wiedersehen möchte – was vollkommen legitim ist. Der Film zeigt wenig von dem, was man aus Filmen über den Holocaust kennt, nicht zuletzt dank Steven Spielbergs Schindlers Liste, auch weil die Kamera im 4:3-Format stets an Protagonist Saul hängt. Dies schafft eine Nähe, die schwer wiegt – unmittelbar und schonungslos. Das Babygeschrei in einer Sequenz verfolgt mich immer noch. Ein Film über den menschlichen Drang nach Sinnhaftigkeit, selbst wenn der Sinn, gerade in einem Konzentrationslager, so weit weg scheint wie die Menschlichkeit.


01.) RAUM

Raum ist ein Film mit beeindruckend vielen Lesarten, während er eine oberflächlich klar umrissende Geschichte erzählt bietet er gänzlich unaufdringlich noch weitere Möglichkeiten der Interpretation an. Raum ist Thriller und Familienfilm, etwas Tragikomödie und grausames Drama, eine Geschichte über das Erwachsen werden und das Erwachsen sein, über die menschliche Psyche und ihre Überforderung. Schwer liegt dem Zuschauer vieles auf der Seele, ohne dass der Film ein Paradebeispiel für Hoffnungslosigkeit wird. Raum ist ein ausbalancierter Film, erschreckend und wunderschön zugleich. Und schlicht der beste Film des Jahres 2016, welches bei so vielen ja als besonders schlimm in Erinnerung bleiben wird, wenn man einigen Kommentaren glauben mag. Doch solange es Filme wie Raum gibt, gibt es immer noch genügend Gründe, ins Kino zu gehen.

Auch schön: Toni Erdmann, A War, The Survivalist, The Lobster, Mitten in Deutschland: NSU – Die Opfer, Der Bunker, Störche – Abenteuer im Anflug, Where to Invade Next, Lehrstunden der Harmonie



Samstag, 8. Oktober 2016

Børning - The Fast and the Funniest (2014)




BØRNING – THE FAST AND THE FUNNIEST
(Børning)
Norwegen 2014
Dt. Erstaufführung: 10.09.2016 (TV-Premiere)
Regie: Hallvard Bræn

Mit „guilty pleasures“ ist es so eine Sache – die Filme zu mögen ist per se etwas peinlich, zumindest, wenn es nach allgemein anerkannten Bewertungskriterien geht – welche auch immer das sein mögen. Zumal es auch einen persönlichen Einblick gewährt, sind „guilty pleasures“ doch oft Überbleibsel aus Kindheit und Jugend, deren Unzulänglichkeiten dem erwachsenen Auge zwar auffallen, die Filme aber kaum von den positiven Gefühlen zu trennen sind. Ich beispielsweise weiß, dass Independence Day beileibe kein guter Film ist, aber als erstes FSK ab 12-Spektakel, dass man in einer Freundesgruppe im Kino sehen durfte, wird er immer einen speziellen Platz in meiner Lebensfilmographie einnehmen.
Mit fortschreitendem Alter, immer mehr Filmen und mehr Seherfahrung (manche würden es wohl auch Zynismus nennen) werden die neuen „guilty pleasures“ weniger – vielleicht auch, weil man als furchtsamer Erwachsener nicht mehr so unkompliziert zugibt, wenn einem ein bestenfalls mittelmäßiges Werk wirklich gut gefällt. Børning ist für mich genau so ein Film und darum sei mir verziehen, dass er vielleicht etwas besser davon kommt, als er „objektiv“ verdient hätte.

Roy (Anders Baasmo Christiansen) ist ein Autonarr im bei der Bemessung seiner Strafzettel nicht gerade zimperlichen Norwegen. Immer wieder gerät er mit seinem Erzfeind Doffen (Sven Nordin) aneinander. Eins ihrer illegalen Rennen führt schließlich zum Platzen der Fruchtblase seiner mitfahrenden Freundin. Alsbald von den Schwiegereltern und der Mutter seiner Tochter verstoßen, konzentriert sich Roy ganz auf das Herumschrauben an alten und neuen Wagen, die ihm in seine Werkstatt geliefert werden und lebt mit seinen nicht weniger PS-affinen Freunden in den Tag hinein. Über ein Jahrzehnt später ist die Beziehung zu seinem Nachwuchs von höflichem Desinteresse und einer gewissen Unfähigkeit geprägt, was sich bald ändern soll: Doffen fordert Roy zu einem erneuten Rennen heraus. Von den Außenbezirken Oslos bis zur Stadtmitte ist als Strecke etwas wenig, auch die nächstgrößeren Städte nordwärts rufen kaum Interesse hervor, also einigt man sich auf das Nordkap, über 2000 Kilometer von Oslo entfernt, als Ziel, welches man in einem Rutsch erreichen will. Zusammen mit ihren jeweiligen Verbündeten machen sich Roy und Doffen auf den Weg über die eher auf das pittoreske Erlebnis ausgelegten Straßen Norwegens, die leicht perplexe Polizei immer im Schlepptau.

Wer einmal in Norwegen war, der weiß, wie abwegig die Idee eines Films á la The Fast and the Furious in diesem Land ist – schmale, gewundene Straßen, große Distanzen mit nicht unüblichen Fährüberfahrten und vor allem sehr saftige Bußgelder schon für kleine Überschreitungen der (für deutsche Verhältnisse) sehr mager bemessenen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Kein Wunder, dass das erste Opfer des Rennens ein Starenkasten ist, der rauchend ob so vieler PS den Geist aufgibt.

Aufbauend auf dieser simplen Prämisse macht Børning – kaum etwas, was darüber hinaus gehen würde. Es ist ein Autorennen von Oslo zum Nordkap mit allen Verwicklungen, die dabei halt auftreten können (am effektivsten erweist sich ein Allergieanfall der Tochter, weil Christiansen es versteht, die väterliche Sorge in dieser Situation ausschließlich mit Blicken zu transportieren), unterfüttert von lakonisch, „typisch skandinavischen“ Humor. Ohne Frontscheibe versuchen, eine Zigarette anzuzünden? Warum nicht. Dabei verfehlt es zwar die deutsche, sehr lustlos herunter gespulte Synchronisation, gerade diesen Aspekt adäquat zu retten, aber im Original wirkt Børning oft noch eigenwilliger, als es die Begebenheiten nicht ohnehin schon suggerieren würden. Gerade das Ende ist unter diesem Gesichtspunkt grandios.

Die Charaktere sind zweidimensional, die Konflikte ebenfalls, es hätten ruhig noch mehr, gern auch schräge, Rennszenen in diesem Rennfilm enthalten sein können (gerade der Beginn mit der Nachtfahrt aus Oslo heraus ist etwas unbefriedigend) und dennoch schafft es Børning, auf seltsame Weise, sich ein Mindestmaß an Charme zu erarbeiten, der den eigentlich recht belanglosen Reigen unterhaltsamer macht, als er es eigentlich verdient hätte (sympathischer als The Fast and the Furious ist er auf jeden Fall). Ein Film über ein Autorennen in Norwegen – es ist beileibe nicht mehr, aber auch definitiv nicht weniger. Der deutsche Verleih darf das in diesen Tagen in Norwegen gestartete Sequel Børning 2: On Ice mit einem winterlichen Rennen von Bergen nach Murmansk gern schneller importieren als diesen ersten Teil, der zwei Jahre nach seiner Premiere im hohen Norden im Programm von Sky Deutschland versteckt wurde. Das hat auch ein durchschnittliches „guilty pleasure“ nicht verdient.




Donnerstag, 6. Oktober 2016

Deadpool (2016)




DEADPOOL
USA 2016
Dt. Erstaufführung: 11.02.2016
Regie: Tim Miller

Wo soll man nur beginnen? Vielleicht bei den positiven Aspekten? Nun gut: nach knapp 75 Minuten leistet sich Deadpool die einzig wirklich gute Dialogzeile: „Ich würde dich ja begleiten aber … ich will nicht.“ Lakonisch vorgetragen, gleichzeitig irrelevant wie bestens zur Narrative passend – es ist ein winziger Moment inmitten eines Taifuns aus cineastischen Zumutungen. Denn der massiv erfolgreiche Film, enfant terrible des MARVEL Cinematic Universe (zumindest möchte er so gesehen werden, auch wenn er lizenzrechtlich wohl zunächst nicht auf die Avengers treffen wird), ist vor allem ein selbstreferenzielles Vakuum, erstarrt in einem schon fast nicht mehr pubertär zu nennenden Verständnis der eigenen Coolness. Prä-Pubertär trifft es wohl eher, das filmische Äquivalent zu dem noch nicht in den Stimmbruch gekommenen Halbstarken, der gern über Dinge erzählt, von denen er bestenfalls eine vage theoretische Ahnung hat – aber das Ganze natürlich so lauthals, dass es jeder Umstehende ungefragt mitbekommen muss. Es hagelt Verweise und Sprüche im Sekundentakt, nicht umsonst wird die Figur Deadpool „the merc with a mouth“ genannt. Das Ganze ist aber so beliebig, so wenig fokussiert, dass der Film Deadpool am Ende des Tages wie eine Twittertimeline gefüllt mit den schlimmsten Nerds, die man sich vorstellen kann, wirkt: alles wird kommentiert, was schnell in 140 Zeichen passt, egal, ob es sinnvoll ist oder nicht – der schnelle Lacher ist wichtiger als jede wie auch immer geartete weitere Ebene. Das sich ausgerechnet der Film, der vorgibt, sich über die eine breite Angriffsfläche bietenden Superheldenfilme á la MARVEL lustig zu machen, der mit Abstand schlechteste Vertreter der leidlichen Bande entpuppt, ist dann auf schräge Art wieder im Sinne des postmodernen Selbstempfindens des Ganzen – wenn denn die „I don’t give a fuck“-Attitüde wirklich ernst gemeint wäre. Denn wie der laute „Whatever“-Pubertätsanwärter aus dem obigen Beispiel ist Deadpool natürlich gar nicht tief unter seiner Oberfläche über alle Maßen von sich überzeugt, was seine Sympathiepunkte nicht gerade steigert.

Wade Wilson (Ryan Reynolds) ist ein ewig plappernder Söldner, der sein privates Glück mit einer sich prostituierenden Stripperin Vanessa (Morena Baccarin) gefunden hat. Als bei ihm jedoch Krebs im Endstadium festgestellt wird und er das dubiose Angebot eines sinistren Agenten erhält, er könne diesen besiegen und gleichzeitig auch noch seine körperlichen Fähigkeiten enorm steigern, zögert er nur kurz. Dummerweise erweist sich die Behandlung als ethisch verwerflicher Versuch, in „normalen“ Menschen die im MARVEL-Universum hinlänglich bekannten X-Gene zu aktivieren, um aus ihnen Mutanten mit besonderen Fähigkeiten zu machen – und sie dann in die Sklaverei zu verkaufen. Aus Wilson wird der entstellte Deadpool, ausgestattet mit beeindruckenden Regenerationskräften und so de facto unsterblich. Auf der Suche nach dem Wissenschaftler Francis (Ed Skrein), der ihn der schmerzhaften Prozedur unterzogen hat, und nach einem Hoffnungsschimmer, seine Freundin zurückzuerobern, mordet er sich durch die Gegend und wehrt die Überredungsversuche von X-Men Colossus (Stefab Kapicic) und Negasonic Teenage Warhead (Brianna Hildebrand) ab, sich auf die gute, sprich nicht anarchistische, Seite des Superheldentums zu schlagen.

Deadpool weiß nichts mit sich anzufangen, auch wenn das Spektakel dem Publikum etwas anderes suggerieren soll. Hinter den Phrasen gibt es den üblichen MARVEL-Ballast aus Entstehungsgeschichte und generischem Geplänkel, todlangweiligem Bösewicht und vorhersehbarer Dramaturgie. Das ist aber natürlich alles total „edgy“, weil Wilson in einer Kampfszene nackt ist und man Ansätze eines Penis sieht und er am Ende die große Heldenansprache von Colossus auf denkbar rüde Art unterbricht. Dazwischen schneidet er sich die Hand ab, nur um den Zuschauer kurz darauf aufzuklären, dass er sich mit der nachwachsenden Miniextremität selbst befriedigen wird. So ist auch das, was der Film zeigt, keine Liebes-, sondern eine reine Lustgeschichte. Deadpool, der Film und der Charakter, sind nur auf die Befriedigung der immer gleichen eigenen Triebe aus. Ein Stück weit menschlich, ohne Frage, aber indem der Film nie etwas darüber hinausgehendes anbietet, suggeriert er eben eine selbstzufriedene Bräsigkeit, die nur noch besser hätte illustriert werden können, wenn Wilsons blinde Mitbewohnerin anstelle von IKEA-Möbeln eine Fliesentisch zusammenbauen würde. Der Segen der Ignoranz, der in der zwar auch problembelasteten, aber sehr viel besseren Superheldenparodie Kick-Ass (und ein Stück weit sogar im dann irgendwann ins sadistische abgleitenden Super) aufgebrochen wurde, bleibt bei Deadpool so penetrant bestehen, dass man sich fragt, für wen dieser Film eigentlich gedacht sein soll. Grölende Scharen, die sich an einfachen Welt- und Filmbildern ergötzen und denen man nicht einmal ansatzweise eine Reflexionsebene jenseits der hanebüchenen popkulturellen Referenz zumutet? Ein unschöner Gedanke.

Denn Deadpool richtet sich explizit an die Zuschauer, die sich darin bestärkt fühlen können, den Lauf des Hasen zu kennen. Indem seine Kommentare sich an die Vermarktung und Rezeptzion von Superheldenfilmen wenden, müssen sie sich keine Gedanken über die Wirkmechanismen innerhalb des Konstrukts machen. Demzufolge ist auch das Hinweisen auf Schwachpunkte, nur um sie danach einfach so zu übernehmen, nicht clever, sondern nur ermüdend. Deadpool ist wie ein erzkonservativer Politiker, der plötzlich versucht zu rappen, um „die Kids“ zu erreichen.

Letztlich bleibt der Eindruck eines größtenteils ziemlich peinlichen Films, der die großen Themen [wirkliche Auseinandersetzung mit den hinterfragungswürdigen „tropes“ des Genres oder auch – mein Favorit – der Plot mit der künstlichen Erschaffung von Mutanten, um sie zu versklaven (!). Niemand will sich dessen annehmen? Große Sache und so, wahrlich dunkle Ecke des MARVEL-Universums? Nein? Meh.] außen vor lässt. So ähnlich wie Deadpools Leben nicht viel wert ist, weil er sich ständig regeneriert (und dies nicht zu Auseinandersetzungen wie bei Wolverine führt), ist es auch der Film, dessen Beliebigkeit gleichermaßen erstaunt wie entsetzt. Der Zuschauer hat dabei die Position des Mitgefangenen in Francis‘ Folterkeller inne: es wird ihm weiß gemacht, Wilson sei ein Kumpel, aber am Ende lässt er ihn doch sterben, um selbst zu entkommen. Reue? Gedanken? Reflektionen? Wer braucht das schon, wenn man sich darüber lustig machen kann, dass es nun zwei Kino-X-Men-Zeitlinien gibt. Oder wenn man mal wieder Deadpools Penis ins Gespräch bringen könnte. Ästhetisch einfallslos (einzig die Animation von Deadpools  ist gelungen, schafft sie es doch, den Comiclook von einem Medium ins andere zu übertragen), intentionell vollkommen fehlgeleitet und dramaturgisch ohne Elan ist Deadpool vor allem eins: vergeudete Lebenszeit. Warum die selbsternannten Parodien des Superheldenfilms meistens so abdriften müssen (ein weiteres Beispiel wäre der Comic The Boys von Garth Ennis), ist indes eine Frage, die auch hier unbeantwortet bleiben muss.