Samstag, 29. August 2015

Höhere Gewalt (2014)




HÖHERE GEWALT
(Turist)
Schweden/Frankreich/Norwegen/Dänemark 2014
Dt. Erstaufführung: 20.11.2014
Regie: Ruben Östlund

Die kontrollierte Lawine bewegt sich rasend gen Tal, von der Terrasse des Bergrestaurants hat man einen Panormablick auf das von Menschen inszenierte „Natur“schauspiel. Doch die Lawine erweckt schnell den Eindruck, dass sie außer Kontrolle geraten ist. Die Kinder der schwedischen Familie, die sich zum Mittagessen auf der Terrasse eingefunden hat, beginnen panisch zu werden, auch die Eltern reagieren innerhalb von Sekunden weit weniger selbstsicher als noch Augenblicke zuvor. Als die Schneemassen scheinbar unmittelbar davor stehen, die Menschen zu begraben, schnappt sich der Familienvater Tomas (Johannes Bah Kuhnke) Handschuhe und Mobiltelefon und rennt um sein Leben – seine Frau Ebba (Lisa Loven Kongsli) und die Kinder Harry (Vincent Wettergren) und Vera (Clara Wettergren) zurücklassend. Als kurz darauf klar wird, dass lediglich etwas Schneestaub das Restaurant eingenebelt hat, kehrt er zurück und setzt sich wieder an den Tisch zu seiner Familie, so, als wäre nichts gewesen.

Dies ist die Schlüsselszene von Höhere Gewalt, ein an sich filmisches Kleinod, eine perfekt inszenierte Momentaufnahme von großer Wucht und genau dem sozialen Zündstoff, mit dem sich der Film in der Folge beschäftigen möchte. Einzig, es fehlt ihm an wahrer Zündkraft, denn unter der fast schon gespenstisch ruhigen Inszenierung und den dazu passenden Bildern von zusammenbrechenden Familienglück und geradezu verzweifelten Naturbeherrschungsphantasien zementiert Höhere Gewalt eher Klischees durch den kleinsten gemeinsamen Nenner anstatt sich auf wirklich interessantes Terrain zu wagen. Der Film denkt entschieden zu kurz.

Nach der Sache mit der Lawine versucht die Touristenfamilie zunächst, den schönen Schein zu wahren, es gibt mehrere halbherzige Versuche der Ehepartner, das Geschehene aufzuarbeiten, der Mann versucht sich herauszureden, seine Frau möchte die Sache gern ausführlich mit Freunden besprechen. Langsam beginnt die gutbürgerliche Fassade zu bröckeln, was den Film aber nirgends hinführt. Die Prämisse ist grandios, doch spürt man stets, wie viel mehr in Höhere Gewalt drin gewesen wäre. Es ist immer frustrierend, dem Film nachzutrauern, den es nicht gibt anstatt sich auf das zu konzentrieren, was geboten wird, aber Regisseur Ruben Östlund stolpert so eklatant bei den wichtigsten Aspekten – der Figurenzeichnung und einem stimmigen Drehbuch, dass einer Analyse standhält – dass man kaum umhin kommt, dies zu tun.

Sein Protagonist ist ein Mann der Mittelklasse ohne Eigenschaften und jegliches Profil. Man erfährt nichts über sein Leben vor dem Urlaub, generisch wird einmal von „zu viel Arbeit“, ein anderes Mal von einer außerehelichen Affäre gesprochen, ansonsten bleibt er blass. Das Aufgeben der Familie fällt auf keinen fruchtbaren Boden, egal wie superb die Szene darüber hinaus inszeniert ist. Die Dekonstruktion von Männlichkeit, um die es Östlund geht (und darum, die Scheidungsraten zu erhöhen, wie er in einem leicht kruden Interview freimütig erläutert), findet ein leicht angreifbares Opfer. Dieser Mann war in seiner uninteressanten Schwäche augenscheinlich schon immer wenig zuverlässig, so will es der Film zumindest suggerieren. Tomas ist wie der Bomberjacken-Neonazi im deutschen Kino: leicht zu identifizieren, leicht zum abarbeiten, die womöglich gravierenderen (und vor allem zeitgemäßeren) Probleme völlig außer Acht lassend. Wäre der liebende, fürsorgliche und umsichtige Ehemann, der in der Ausgangssituation dann so handelt, nicht sehr viel interessanter? Die Wirkmacht von archaischen Männlichkeitsidealen bis in die moderne Paarbeziehung hinein, die damit einhergehende Sinnkrise des modernen Mannes, die intrafamiliäre Auseinandersetzung – eine potentere Variante von Höhere Gewalt schreibt sich quasi von selbst. Doch Östlund entscheidet sich unisono für den Weg des geringsten Widerstands und des einfachsten Drehbuchs. Unweigerlich wird man an den weitaus durchdachteren The Loneliest Planet von Julia Loktev erinnert, in dem die Regisseurin durch eine Fülle von Details mehr über ihre Figuren, ihre Dynamiken und die emotionalen wie sozialen Wirkmechanismen erzählt als es Östlund mit seinen teilweise sehr plakativ dahingeklatschten Platzhaltern tut. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Filme im Ansatz ähneln, wie sehr ihnen gleiche Überlegungen zugrunde liegen und wie unterschiedlich die Ergebnisse sind. Es ist vielleicht zu wenig, um nach dem Plagiat zu schreien, aber es fällt auch ins Auge, wie sehr sich die Filme bis zur künstlerischen Gestaltung (Stichwort Musik) ähneln.

Der Mann als Schwächling, die Frau als gefühlskalte Rechthaberin (die Szene, in der sie die Panik ihrer Kinder ob des sich im Zimmers befindlichen Reinigungspersonals ignoriert ist nicht ganz so intensiv wie die Lawinensequenz, wohl aber genauso bezeichnend), die Kinder als vom Drehbuch ziemlich negierte Handlungsspielbälle (ja, ich weiß, ein „Kommentar“ zur über allem schwebenden Scheidungsthematik) – Höhere Gewalt fährt schwere Geschütze auf, um dann unfokussiert in der Gegend herumzuballern, interessiert sich aber auch nicht wirklich für seine Figuren oder deren Konflikte. Es gibt Szenen von unglaublicher Sprengkraft, etwas wenn Tomas seine Flucht vehement verneint, nur um dann durch einen „Videobeweis“ überführt zu werden, die aber aufgrund der bereits genannten Punkte nicht ihre volle Wirkung entfalten. So dekonstruiert Östlund weit weniger, als er uns weiß machen will, weil er einfach mit Augenbinde Hiebe in alle Richtungen verteilt, anstatt gezielte Treffer zu landen. Das Unglück trifft teilnahmslose Langeweiler, wen soll es also kümmern? Östlund vermeidet nicht nur gezielte Hiebe, er hat auch ein reichlich unterentwickeltes Verständnis von Paarbeziehungen. Die massive Sprachlosigkeit, die auch The Loneliest Planet nicht immer gut zu Gesicht stand, wirkt einmal mehr derartig überzogen, dass man sich fragt, ob der Regisseur überhaupt schon mal eine längere Beziehung geführt hat (auch hier gibt ein Interview partielle Auskunft: er lebt allein als „perfekter Konsument“ – nun gut). Wirkliche, nachvollziehbare Emotionen gibt es bei Östlund nicht, weil er seinen Figuren keine Tiefe zutraut und dem Zuschauer im Umkehrschluss ebenso nicht.

So führt auch dies nur weiter zur Quintessenz des ganzen Unterfangens: Figuren, sie sich im Endeffekt in ihren Rollen bestätigen (gerade auch durch das Ende, in dem ein „klassisches“ Heldentum wieder bestärkt und Ebba einmal mehr in die Rolle eines undankbaren Stereotyps gedrängt wird) wandeln durch einen Film, der sich selbst für sehr viel subversiver hält, als er ist. Es gibt tonnenweise Ansatzpunkte, die kaum genutzt werden, durchaus Momente von nicht wegzudiskutierender Schönheit und inszenatorischer Kraft, sehr viel Handwerkskunst und dadurch eben auch viel Diskussionsstoff. Die Sichtweisen auf den Film sind de facto interessanter als der Film selbst, der sich nicht traut, wirklich dorthin zu gehen, wo es weh tut. Höhere Gewalt könnte viel zum Geschlechterverhältnis, zum Stand moderner Ehen, zur „Krise der Männlichkeit“ sagen. Dass er es nicht tut, sondern dies nur oberflächlich behauptet, sollte ihm entschiedener angekreidet werden. Denn im Endeffekt ist es ein Rant ohne Fokus im Gewand eines ziemlich zahnlosen Papiertigers.