Montag, 5. August 2013

Die Jagd (2012)




DIE JAGD
(Jagten)
Dänemark 2012
Dt. Erstaufführung: 28.03.2013
Regie: Thomas Vinterberg

Alle Ebenen, versteckten Hinweise und Interpretationsmöglichkeiten von Thomas Vinterbergs Die Jagd aufzuzählen, würde den Rahmen einer jeden Rezension sprengen. Dies ist ein Film mit schlicht unendlich vielen Blickwinkeln und Details, die ihn zu einem immens spannenden, wenn auch gelegentlich ein klein wenig artifiziellen Drama machen. Letztlich ist es aber wohl gerade der persönliche Blickpunkt des jeweiligen Zuschauers, wie sehr er oder sie gerade auf den letzen Einwand reagiert. Wenn man an das Gute im Menschen glaubt, mag sich manche Begebenheit in Die Jagd wie ein Konstrukt anfühlen. Wer einen pessimistischen Blick auf die Menschheit hat, wird damit weniger Probleme haben. In letzter Konsequenz ist Vinterberg mitsamt seinem Drehbuchautor Tobias Lindholm auch klug genug, beide Seiten zu bedienen. Was nur noch mehr zur Vielschichtigkeit des Films beiträgt.

Lucas (Mads Mikkelsen) lebt in einem dänischen Dorf. Hier kennt jeder jeden, Weihnachten ist ebenso ein großes Ereignis wie der Erhalt einer Jagderlaubnis. Lucas arbeitet als Kindergärtner und nach seiner Scheidung bahnt sich nicht nur einen neue Romanze an, auch sein Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) möchte inzwischen lieber bei ihm wohnen als bei der Mutter. Lucas‘ bester Freund ist Theo (Thomas Bo Larsen) mitsamt Familie, zu der auch das Kindergartenkind Klara (Annika Wedderkopp) gehört, die in Lucas einen Ruhepol sieht, der sie vor den Streitereien der Eltern ein Stück weit abschirmen kann. Dies führt nicht nur dazu, dass Klara Lucas bei einem Spiel auf den Mund küsst, sondern ihm auch ein selbstgebasteltes Herzchen in die Manteltasche steckt. Lucas weißt beide kindlichen Liebesbeweise von sich und macht Klara klar, dass dies nicht in Ordnung ist. Tief enttäuscht von dieser Zurückweisung erfindet das Mädchen gegenüber der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) eine grauenhafte Geschichte: Lucas hätte sich vor ihr entblößt. Die Lüge beginnt sich sofort wie ein Virus zu verbreiten und irgendwann hört niemand mehr im Dorf auf Klaras Richtigstellungsversuche noch auf Lucas‘ Unschuldsbeteuerungen. Mit jedem Tag wird die Lage prekärer und gefährlicher für Lucas, während die Emotionen der Dorfbewohner immer aggressivere Züge annehmen…

Das Die Jagd ein Film über Vorurteile ist, ist ebenso banal wie schnell ersichtlich. Vinterberg, der als Dogma-Filmer (Das Fest) begann, inszeniert seinen Film aber so klug, dass es nicht bei dieser simplen Betrachtungsweise bleibt. Die Jagd nimmt einige Wendungen, die nicht vorhersehbar sind und verzichtet größtenteils auf das große Melodram. Die Handlung hat einen organischen Fluss und auch wenn mitunter die Zuschauererwartung geradezu hollywood’esk befriedigt wird (Lucas‘ betritt nach einer intensiven Auseinandersetzung nochmals den Supermarkt, aus dem er gerade geworfen wurde, um einen seiner Peiniger die Nase zu brechen – und seine Einkäufe mitzunehmen), bleibt Vinterberg stets auf einer glaubwürdigen Ebene verhaftet. Man könnte die geradezu durchtriebene Lüge Klaras oder das Verhalten Grethes als konstruiert ansehen, aber völlig unglaubwürdig ist es nicht. Zumal der Film darüber äußerst viel zu transportieren weiß.

So ist Grethe eine regelrechte Antagonistin, obwohl sie es im Grunde nur gut und richtig meint. Die Methoden, die sie anwendet, sind allerdings ziemlich fragwürdig. Darf man ein Kindergartenkind beispielsweise ohne Zustimmung der Eltern von einem Psychologen befragen lassen? Und mit Lucas, also dem „Angeklagten“ wechselt sie nur wenige Worte. Kindesmissbrauch ist eine Sache, bei der das Wort „ernst“ zu lasch erscheint und in gewisser Weise ist ein schnelles Eingreifen auch verständlich. Die Jagd ist kein Plädoyer für einen laxen Umgang mit dem Thema, sehr wohl aber für Besonnenheit und Professionalität bei der Aufklärung, kann doch schon ein falscher Verdacht viel zerstören. Weil der Zuschauer um Lucas‘ Unschuld weiß, wird Grethe und ihr Vorgehen zu einen Negativschablone, wäre der Film ambivalenter gestaltet, sähe es womöglich anders aus. Lucas ist als männlicher Kindergärtner in kultureller Hinsicht als Täter geradezu prädestiniert, übt er doch einen sozialen, also „unmännlichen“ Job aus, was ihn ohnehin von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus verdächtig macht. Vor der Lüge war Lucas unverdächtig, danach scheint die Verbindung von Mann und sozialem Beruf ein Totschlagargument für die Richtigkeit bzw. hohe Wahrscheinlichkeit bezüglich des Wahrheitsgehalts der Anschuldigung zu sein. Als hätte es immer schon unterschwellig gebrodelt, weil ein Mann so etwas ja nicht macht. Nicht umsonst empört sich Lucas‘ Ex-Frau am Telefon darüber, dass er mit 42 Jahren als Kindergärtner arbeitet – es ist als gesellschaftliches Bild nicht „ganz richtig“ und mit ein Grund, warum das Gerücht auf so fruchtbaren Boden fällt.

So offenbart Vinterberg nicht nur, dass in diesem Fall der Grundsatz der Unschuldsannahme bis zum Beweis des Gegenteils nicht greift (Lucas ist von vornherein als schuldig anzusehen), sondern auch, wie sehr das kulturelle Bild des Kindes den Fall prägt. Klara ist per definitionem unschuldig, sie ist ein „kleiner Engel“, ein Kind – und als solches im Verständnis der Erwachsenen gar nicht fähig, sich eine solche Lüge auszudenken. Dabei nimmt der Film Klara als exemplarisches Kind ernster als die Erwachsenenfiguren um sie herum. Vinterberg steht Klara Verletzlichkeit und Gefühlschaos zu, er weiß darum, dass die Kinderwelt nicht immer so durchgehend rosig ist, wie es beispielsweise Astrid Lindgren beschrieben hat (ein weiteres filmisches Beispiel für die Komplexität der Kindergefühlswelt wäre Wo die wilden Kerle wohnen), auch weil die Welt der Erwachsenen in unpassender weise mit der von Klara zusammenprallt. So mag der Aufhänger, warum Klara überhaupt von erigierten Penissen weiß, für einen Erwachsenen kaum bemerkenswert sein, aber man spürt, wie diese nicht kindgerecht dargebrachte Information die Synapsen in Klaras Kopf zum rotieren bringt. Klaras Richtigstellungsversuche stoßen deshalb auf taube Ohren, weil die Erwachsenen nicht vom Bild des „Kindermund tut (immer) Wahrheit kund“ lassen können. Mehr noch, sie sind so sehr davon überzeugt, dass ein Kind die Realitäten nicht unterscheiden kann, dass sie anfangen, ihr die falschen Behauptungen als Wahrheit quasi zu reimplantieren. All diese Ungeheuerlichkeiten inszeniert Vinterberg mit einer sezierenden Unaufgeregtheit, die die Spannung manchmal ins Maßlose ansteigen lässt.

Neben der subtilen Schilderung der Kinderseele wird auch die Gruppendynamik des Dorfes ohne allzu reißerische Effekte wiedergegeben. Die Gemeinschaft wird dabei nicht als geschlossener Mob dargestellt. Manche halten zu Lucas, andere sehen sich im moralischen Recht, mit Fäusten und Tritten gegen den vermeintlichen Täter vorzugehen, obwohl die Polizei ihn wegen mangelnden Beweisen schon längst hat wieder gehen lassen. Auch dass die Freundschaft zwischen Lucas und Theo nicht zu einer Blutfehde á la einem generischen Revengethriller wird, ist interessant. Theo wird durchgehend als Zweifler dargestellt, den die Aussagen seines besten Freundes von Kinderbeinen an auf der einen und die seiner kleinen Tochter auf der anderen Seite zu zerreißen drohen. Er verhält sich manchmal falsch, aber das kann man auch von Lucas‘ Sohn Marcus sagen. Ohne Fehler ist hier niemand, aber Theo partizipiert nicht in den blinden Lynchabsichten vieler anderer Dorfbewohner. Die Vielschichtigkeit macht auch um die Dorfdynamik keinen Umweg.

Die Jagd ist spannend, bedient zwar auch das ein oder andere Klischee (z.B. die „Nachricht“ per Müllbeutel vor Lucas‘ Tür), ist insgesamt aber ein packendes Drama mit einer involvierenden Charakter- und Milieuzeichnung. Mein Magen krampfte sich mehrfach ob der zu wütenden Tränen animierenden Ungerechtigkeit und der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse zusammen. Man darf gespannt sein, ob noch ein anderer Film in diesem Jahr diese Kraft besitzen und vor allem mit einem solch hervorragenden Ende aufwarten wird: Denn Vorurteile und Misstrauen sind schwer aus der Welt zu schaffen. Und wie schnell ist ein Leben zerstört. Lucas wird sich lange, womöglich bis an sein Lebensende, nervös umsehen.



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